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Pusteblume

Ich bin schlecht darin, das Alter von Kindern zu schätzen. Das Mädchen kann daher sechs, vielleicht aber auch schon zehn Jahre alt gewesen sein.  Sie war auf dem Weg zur Schule und trug einen dieser Ranzen, von denen man meint, sie wiegen mindestens das Doppelte von dem Kind, auf dessen Rücken sie hängen. Außerdem war sie fast luftdicht in verschiedene Winterklamottenschichten verpackt: Jacke, Mütze, Schal, usw. – kurz: sie sah aus wie das Michelin-Männchen, und ich halte es noch heute für ein Wunder, dass sie sich überhaupt bewegen konnte.

Ich war auf dem Weg zur Arbeit, als wir uns auf dem Bürgersteig begegneten. Fast hätte ich sie umgerannt, denn ich nutze die sieben bis acht Minuten Fußweg in die Redaktion gerne, um per Handy schon mal die eine oder andere Email zu beantworten. Erwachsenen und Autos kann ich dabei problemlos ausweichen, Kinder hingegen verstecken sich – wie ich jetzt weiß – gerne hinter “An:” und “Betreff:”.

Allerdings war ich nicht der Einzige, der abgelenkt war. Kurz bevor das kleine Mädchen und ich zusammengestoßen wären, sprang sie auf die Seite. Mit großen Augen pflückte und begutachtete sie eine vergessene Pusteblume, die sich sich hier neben einem Baum vom Wind schaukeln ließ. Während ich auf den “Senden”-Button tippte, pflückte das Mädchen die Blume und begann zu pusten und zu lachen und entließ so eine kleine, weiße Schirmfliegerwolke in meine Richtung.

“Pusteblume”, dachte ich, und fragte mich, ob es für diese Entwicklungsstufe des Löwenzahns eigentlich auch einen erwachsenen Ausdruck gibt. Zugleich versuchte ich mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal einen verblühten Löwenzahn gesehen oder gar gepflückt hatte. Ob nur Kinder Pusteblumen finden können?

In einer Stunde werde ich 31 Jahre alt. Ich sollte öfter nach Pusteblumen Ausschau halten.

In diesem Sinne, pffffff!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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