Desillussionierend Gedankenwelten Mitmenschen

Spiegelbrille

Es ist nicht so, als würde er mich nicht kennen. Im Gegenteil: Wir sind seit Jahren Freunde, auch wenn wir uns nicht so oft sehen. Ich rede normalerweise offen mit ihm. Probleme, Sorgen, Schwächen – vielleicht untypische Themen für eine Männerfreundschaft. Trotzdem tut mir der Austausch gut. Und trotzdem muss ich in seinem Kopf immer wieder ein ebenso unglaubliches wie ungewolltes schauspielerisches Talent entfalten.

Wie wir andere Menschen sehen, hängt auch immer davon ab, wie wir uns selbst sehen. Die meisten Menschen wissen nämlich viel besser über sich selbst  bescheid, als sie sich eingestehen möchten.

Besonders zeigt sich das dann, wenn sie mit anderen Menschen zusammentreffen. Schnell wird das Gegenüber dann zu einer ganz eigenen Art von Spiegel, der Änlichkeiten genau so übertreibt wie Unterschiede. Mit anderen Worten: Die meisten Menschen neigen dazu, die eigenen Schwächen bei ihrem Gegenüber besonders stark wahrzunehmen – genau so wie das, was sie für ihre Stärken halten.

Wer zum Beispiel besonders schüchtern ist, wird Schüchternheit auch bei seinen Mitmenschen suchen. Entweder, um sie zu finden – oder das Gegenteil davon. Wer selbst aufbrausend ist, es aber nicht sein möchte, wird besonders schnell von aufbrausenden Menschen genervt sein – und zugleich weniger aufbrausenden Freunden ein besonders ruhiges Wesen unterstellen.

Ganz ähnlich ist es mit besagtem Freund. Immer wieder unterstellt er mir Stärken, die er sich selber wünscht, Schwächen, die er von sich selbst kennt – und die jeweiligen Gegenteile davon. Meist stört mich das nicht, weil es eher nebenbei zur Sprache kommt und unsere Gespräche oft nur am Rande tangiert. Trotzdem irritiert es mich manchmal. Vor allem dann, wenn ich feststelle, dass sein Bild von mir sich in seinem Kopf verselbständigt.

Das Problem dabei: Ich bin mir durchaus bewusst, dass auch ich ihn durch die Spiegelbrille sehe. Zumindest muss ich davon ausgehen, wenn meine Theorie stimmt. Und dann müsste ich ja eigentlich davon ausgehen, dass auch das Bild von mir, das ich mir in sein Bild von ihm denke, reichlich spiegelbrillenverzerrt ist.

In diesem Sinne, Gruß an Kant!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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