Gedankenwelten Mitmenschen

Einsturzgefährdet

Gestern habe ich mich gewundert, dass die Straßenbahn nicht im Erdboden versunken ist. Warum nicht ständig Straßenbahnen nach unten durch die Straße brechen und krachend darunter verschwinden.

Ich habe auf einem Platz relativ weit hinten gesessen. Es war Zufall, doch so ich fast die gesamte Bahn im Blick. Zum Beispiel die ältere Frau mit dem runden, schwarzen Filzhut auf dem viel zu runden Kopf. Ihre Mundwinkel waren fast schon merkelhaft nach unten gezogen; als wäre es schon ein paar Jahre her, als sie das letzte Mal gelacht oder gelächelt hat. Mit einer Hand hielt sie die Handtasche auf ihren Knien, mit der anderen umfasste und umkreiste sie wieder und wieder sanft das Gelenk dieser Hand. Als würde sie etwas suchen oder ertasten – immer wieder.

Ein wenig weiter vorn saß eine junge Frau mit einem Hund. Dem Hund hing ein langer, glitschiger Sabberfaden aus dem Mund, der sich in einem gleichmäßigen Rhythmus hoch und runter bewegte. Der Hund saß zu den Knien der Frau, doch sie schien ganz vergessen zu haben, dass er da war. Verträumt guckte sie aus dem Fenster. Ihre Pupillen blieben immer wieder an einzelnen Punkten der vorbeiziehenden Stadt hängen. Man hatte fast den Eindruck, als verfolgte sie ein Tennisspiel, bei dem einer der beiden Spieler deutlich besser war als sein Gegner. Die Frau schien sehr nachdenklich, aber nicht unglücklich.

Auf dem Platz vor ihr saß ein älterer Mann. Seine knochige Hand zitterte leicht. Allerdings saß er aufrecht und strahlte eine besondere Art Würde aus. Dabei trug er ein helles Hemd, keine Krawatte, und ein leicht abgetragenes, schwarzes Jacket. Seine Augen waren blassblau. Das glaube ich zumindest oder fände es schön, weil es so gut zu ihm passen würde.

Ich bin nur zwölf Minuten mit dieser Bahn gefahren. Es kam mir länger vor. Diese eine Bahn war so voll mit Menschen, von denen jeder für sich jeweils mindestens eine Lebensgeschichte mit sich rumtrugen – so wie ich ja auch. Einmal abgefragt und aufgeschrieben würden die Geschichten etliche Bücher füllen und Stoff genug für zig Filme und noch mehr Kurzgeschichten bieten. Genug Gewicht, um jede noch so starke Straße zu knacken.

In diesem Sinne, gute Fahrt!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

3 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Ja, bitte Felix!
    Schreib doch mal ein Buch! Oder einen Sammelband mit mehreren Kurzgeschichten!! Ich würde es sofort kaufen!

  2. @Catherina: Schreiben ist zwar mein Beruf, aber Buchautor bin ich nicht (sieht man von Uni-Arbeiten ab, die es inzwischen theoretisch als Buch gibt)

    @Schwester W.: Du musst nichts kaufen, Dir würde ich es natürlich schenken ;-)

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