Papawelten

Doppelt Papa oder: Die ersten Erinnerungen meiner Töchter

Irgendwann jetzt kann es passieren. Jederzeit eigentlich. Vielleicht ist es auch schon passiert. Meine ältere Tochter erlebt das, was später einmal ihre erste bewusste Kindheits-Erinnerung sein wird.

Manchmal habe ich Angst, dass es ausgerechnet ein Moment ist, in dem sie gar nicht gut auf mich zu sprechen ist. Man erinnert sich ja um so stärker, je emotionaler ein Moment war. Und gibt es etwas emotionaleres als ein dreijähriges Mädchen, das nicht bekommt, was es unbedingt möchte? Zum Beispiel die achte Glückwunschkarte aus dem dm, die zuhause eilig mit Filzstiften beschriftet und dann als Geburtstagsgeschenk verpackt wird. Vielleicht ist es auch der Moment, als ich böser Papa ihr das Kleidchen verwehrt, weil es draußen kalt ist und eine dicke Jacke daher das angebrachtere Outfit ist. Vielleicht auch einfach der hochemotionale Moment, in dem ich versehentlich das Essen falsch auf dem Teller drapiert habe – “Die Sauce muss hierhin Papa, nicht dahin!”, gefolgt von wildem Weinen.

Momente, bei denen wir besonders viel fühlen, haben die größeren Chancen, sich dauerhaft im Gedächtnis einzunisten. Was übrigens einer der Gründe ist, warum wir immer das Gefühl haben, dass die Winter früher schneereicher und die Sommer länger waren (gut, ein wenig spielt hier sicherlich auch der Klimawandel mit rein). Ein Schneetag war in der Kindheit ein Riesending. Man konnte Schlittenfahren, vielleicht fiel sogar die Schule oder der Kindergarten aus. Kein Wunder, dass ein solcher Tag einen besonderen Platz in der eigenen Erinnerung bekommen hat. Heute ärgert man sich dagegen eher über den schneebedingten Stau oder darüber, dass man nun Schneeschippen muss. Beides sind allerdings keine Emotionen, die ausreichen, um als Erinnerung besonders hervorzustechen.

Andererseits: Was sind schon Erinnerungen? Unser Gedächtnis ist hier durchaus fehleranfällig. Erinnerungen sind keineswegs so absolut, wie wir gerne hätten. In Experimenten hat man nachgewiesen, dass sich Menschen zum Beispiel durch bearbeitete Fotos täuschen lassen. Montiert man sie als Kinder in Bilder rein, die sie an bestimmten Orten oder in bestimmten Situationen zeigen, behaupten manche von ihnen, dass sie sich tatsächlich an die Situation auf dem Foto erinnern zu können, selbst wenn diese nie stattgefunden hat.

Ich habe mehrere erste Erinnerungen. Zumindest glaube ich das. Ohnehin fällt es mir schwer, diese Erinnerungen in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Erinnerung, die ich für die erste halte, könnte daher durchaus auch schon die zweite oder dritte Erinnerung sein. Oder auch gar keine, sondern etwas, das mein Kopf sich erst viel später zusammengebastelt hat.

Da ist zum Beispiel der Moment im Kindergarten, als ich mir die Frage stelle, was ich eigentlich mal meinen Kindern aus meiner Kindheit erzählen soll? Ich habe die Situation meine Gedanken noch recht bildlich vor Augen. Ich sehe im Außenbereich des Kindergartens stehen, auf eine Holzabsperrung starren und sehr ernsthaft nachdenken. Meine Eltern kannten so viele Geschichten von früher, wie würde ich da je mithalten können. Denn wenn ich in dem Moment ehrlich war, fiel mir nicht viel ein, was ich erzählen könnte. Das hat mir damals wirklich Sorgen gemacht.

Für diese Erinnerung als erste Erinnerung spricht, dass Kinder das, was sie in den ersten drei bis vier Lebensjahren erleben, zwar speichern, aber auch wieder vergessen. Infantile Amnesie ist der Fachbegriff dafür und das Phänomen ist bis heute nicht restlos geklärt. Mit normalen Vergessen ist es jedenfalls offenbar nicht zu erklären. Hinzu kommt, dass Kinder sich mit zeitlichen Dimensionen schwer tun.

Kurz vor ihrem dritten Geburtstag erzählte meine Tochter ihrer Kindergartenfreundin, die gerade Geburtstag gehabt hatte, dass sie “gestern” zum Geburtstag ganz viele Luftballons bekommen habe. Ich fand das doppelt beeindruckend, denn einerseits war ihr das Wort gestern als Beschreibung der Vergangenheit also ein Begriff. Zum anderen hatte sie Recht: zu ihrem zweiten Geburtstag hatten wir sie mit ganz vielen Luftballons überrascht.

Woran wird sich meine Tochter einmal erinnern? Vielleicht ist es ja auch gar kein Wut-Moment, an den sie sich erinnert? Vielleicht erinnert sie daran, wie ich sie auf die Schaukel setze und sie “bis zum Himmel fliegt”, genau so, wie sie es schon auf dem Weg zum Spielplatzes die ganze Zeit gefordert hat. Oder wie sie morgens zu mir ins Bett kriecht und unbedingt noch eine Geschichte hören möchte. Oder vielleicht bastelt sie sich auch etwas ganz eigenes zusammen. Schön wäre jedenfalls, wenn ich ein Teil davon sein darf.

In diesem Sinne, woran erinnert Ihr Euch so?

PS: Mehr Papa-Gedanken gesammelt hier!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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