Meine Leselisten werden kürzer. Ein Buch pro Woche, 52 Bücher im Jahr, das habe ich seit 2018 nicht mehr geschafft. Aber die vergangenen beiden Jahre zusammengenommen waren es in etwa so viele: 54 nämlich. Drei davon stelle ich hier vor. Viel Spaß dabei!
Ken Follett, Never
Manchmal war ich nicht sicher: Habe ich das heute früh in der Zeitung gelesen – oder gestern Abend im Buch? Ken Folletts Story ist bereits im vergangenen Jahr erschienen. Es spielt in einer nicht näher definierten, aber nahen Zukunft. Mit der Ukraine-Krise wurde es nun schneller von der Realität eingeholt als ich noch zu Beginn der Lektüre gedacht habe.
Die Geschichte ist an sich schnell erzählt, auch wenn sich Follett sich dafür über 800 Seiten Zeit lässt: Ein kleines militärisches Scharmützel im Tschad, bei dem ein amerikanischer Soldat zu Tode kommt, sorgt für eine immer schneller ablaufende Kettenreaktion an deren Ende – Achtung: Spoiler – ein Atomkrieg zwischen den USA und China steht.
Follett selbst sagt und stellt dies dem Buch auch voran, dass ihm die Idee zu „Never“ beim Schreiben seiner Jahrhunderttrilogie kam. Bei seinen Recherchen zum Ersten Weltkrieg sei ihm klar geworden, dass das ein Krieg gewesen sei, den niemand wirklich gewollt habe. „But the emperors and prime ministers, one by one, made decisions — logical, moderate decisions — each of which took us a small step closer to the most terrible conflict the world had ever known. I came to believe that it was all a tragic accident. And I wondered: could that happen again?”
Follett beantwortet die Frage mit Hilfe einer komplexen und vielschichtigen Eskalationsgeschichte. Einen einzelnen Protagonisten gibt es dabei nicht. Vielmehr springt die Geschichte zwischen vielen verschiedenen Personen und Handlungssträngen hin und her: Die amerikanischer Präsidentin, die sich im Wahlkampf gegen einen Populistischen Herausforderer a la Trump behaupten muss. Ein aufstrebender chinesischer Geheimdienst-Beauftragter, der sich gegen die Hardliner in der eigenen Regierung stellt. Eine junge Witwe, die vom Tschad nach Europa fliehen muss, weil der Tschad-See nahezu ausgetrocknet ist. Ein amerikanischer Spion auf der Spur von Drogen, die vom IS geschmuggelt werden. Eine junge CIA-Mitarbeiterin in Afrika.
Es ist gerade der häufige Perspektivenwechsel, der die Eskalation so unheimlich macht. Immer wieder präsentiert Follett dem Leser, wie jede Seite für sich sich völlig logisch verhält, ja eigentlich kaum anders handeln kann, und so das Rad immer schneller dreht, bis schließlich ein Aufstand in Nordkorea dafür sorgt, dass es zum Äußersten kommt.
In der Kritik kam Follett mit dem Buch durchschnittlich an. Einige Leser schienen ihm fast übel zu nehmen, wieder einen politischen Thriller statt bitteschön noch einen historischen Roman verfasst zu haben. Sowohl Kritiker als auch Leserrezensionen werfen ihm vor, die Geschichte unnötig ausgedehnt zu haben.
In meinen Augen ist gerade das die Stärke des Buches. Natürlich ist es für die Krise nicht relevant, dass die pubertierende Tochter der US-Präsidentin beim Kiffen erwischt worden ist. Trotzdem verleihen erst solche Details der ganzen Geschichte die nötige Tiefe und rücken den Kern der Geschichte, deren Kern man auch auf einem A4-Blatt erzählen könnte, in ein Verhältnis. Sie zeigen, dass das alles nicht im luftleeren Raum passiert, sondern im Hier und Jetzt, wo es noch ein ganz normales Leben gibt.
Nachhaltig beeindruckt hat mich außerdem die Geschichte der flüchtigen Witwe, die viel Geld für die wochenlange Fahrt in einem alten Bus bezahlt, der sie vom Tschad ans Mittelmeer bringen soll, von wo es weiter nach Europa gehen soll. Die Fahrt endet in einem Camp bei einer Goldmine, scheinbar einer normalen Übernachtungsetappe irgendwo im Nirgendwo der Wüste. Noch während die Flüchtlinge sich fragen, wie jemand freiwillig in dieser Mine arbeiten kann, verschwindet der Bus samt Schleuser und man eröffnet ihnen, dass die nächste Mahlzeit die letzte ist, die sie mit ihrem Fluchgeld bezahlt hätten. Danach stünde es ihnen natürlich frei zu gehen – alternativ könnten sie natürlich gegen Kost und Logis in der Mine arbeiten.
Wie viele Parallelen die Geschichte zur aktuellen Entwicklung hat, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzen. Vom Ergebnis her gesehen möchte man hoffen: möglichst wenige. Trotzdem zeigt Follett eindrucksvoll, wie fragil der oft als so sicher hingenommene Frieden in Deutschland und weiten Teilen Europas ist. Mit genug Lesezeit daher: definitiv eine Empfehlung.
Felicitas Korn, Drei Leben lang
Der Teenager Michi hat bei einem Autounfall seine Eltern verloren. Mit seiner Schwester wird er in ein Heim gebracht, muss befürchten, nun von ihr getrennt zu werden.
Der Drogendealer „King“ steht selbst keine Nacht mehr ohne Koks durch. Trotzdem (oder gerade deswegen?) wagt er nun den großen Wurf. Er will seinen Ober-Dealer vom Thron stoßen und sich an seine Stelle setzen. Nebenbei will er ihm noch die Frau, Jana, ausspannen.
Der Alkoholiker Loosi will es dieses Mal endlich schaffen, vom Alkohol wegzukommen. Endlich ein normales Leben leben. Eines, bei dem er nicht Loosi, der Loser ist, und bei dem ihm eine viel zu junge Frau begleiten soll, in die er sich während der Therapie verliebt.
In ihrem Debut-Roman erzählt Felicitas Korn von drei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und die am Ende außer einer Liebe zu schnellen Autos und Geschwindigkeit doch viel mehr verbindet, als man als Leser vermutet hätte. Doch nicht nur das überraschende Ende, das wirklich erst ganz am Ende, auf den allerletzten Seiten, erzählt wird, macht das Buch lesenswert. Es ist die ganze Art, wie Korn erzählt. Ihre ganze Sprache, spiegelt immer jeweils die Person wider, von der gerade die Rede ist. Dass es dabei manchmal derb zugeht – geschenkt.
Alle drei Protagonisten sind einerseits Klischee, andererseits aber so vielschichtig beschrieben, dass sie es nicht sind. Das macht sie nicht immer sympathisch. Als Leser versteht man aber, warum sie sind, wie sie sind, und warum sie handeln, wie sie handeln. Man wünscht ihnen Erfolg, obwohl man weiß, dass ihr Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Waisenjunge Michi soll die Flucht in dem geklauten Auto gelingen. King soll der nächste Chefdealer Frankfurts werden und Loosi seine eigentümliche Therapie-Freundin bekommen. Nur würde dann die Geschichte natürlich nicht so funktionieren, wie sie funktioniert.
Stephen King, Billy Summers
Ein typischer Stephen King? Ja und nein. Nein, es ist kein neuer Horror-Roman. Aber wird man King eigentlich noch gerecht, wenn man ihn immer wieder in diese Ecke schiebt? Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder King-Bücher gelesen, die so gar nichts mit „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und Co. zu tun hatten.
Trotzdem war ihnen eines gemein: Der Autor hat sich viel Zeit genommen, die Geschichte zu entwickeln. Ausstattungs- und Ausschweifungsgrad des Erzählen muss man hierbei durchaus als luxuriös bezeichnen. Viel Überfluss, den es eigentlich nicht gebraucht hätte, um die Story zu erzählen. Aber auch hier wie bei Follett gilt: gerade das macht es aus. Es erlaubt mir als Leser, mich auf eine ganz andere Weise in der Geschichte zu verlieren.
Das galt für „Der Anschlag“, das gilt auch für Billy Summers. Billy Summers ist Berufskiller. Ein sehr erfolgreicher noch dazu. Allerdings einer, der es sich zur Maxime gemacht hat, nur böse Menschen zu ermorden. Dass er dabei nach außen hin auch sonst gerne als eher simpel gestrickt auftritt, ist Teil seines Plans. Besser unterschätzt als überschätzt zu werden.
Jetzt hat er seinen letzten Auftrag angenommen. Scheinbar einfach, aber auch sehr gut bezahlt. Dabei ist er sich natürlich bewusst, dass es immer diese Aufträge sind, die scheitern. Passend dazu schaut er sich am Abend, nachdem er den Auftrag angenommen hat, den Film „Asphalt Jungle“ an, eben einer jenen Letzter-Coup-Filme. Der Zuschauer weiß das, weiß es von Anfang an. So sehr er mit dem Helden fiebert und ihm ein besseres Ende wünscht. Letztlich ist es eben dieses Scheitern, in das man Sehenden Auges rennt, das den Reiz der ganzen Geschichte ausmacht.
Das überdurchschnittliche hohe Honorar begründet Summers sein Auftraggeber damit, dass er unter Umständen sehr lange, mehrere Wochen oder Monate, auf den richtigen Moment warten muss. Das Opfer wird dann vor Gericht erscheinen müssen und soll auf dem Weg dorthin von einem Bürohaus aus erschossen werden.
Summers bekommt ein Büro mit passender Sicht auf das Gericht. Nach außen tritt er als Schriftsteller auf, der hier sein neues Buch verfassen will. Und weil Summers tatsächlich nichts Besseres zu tun hat, fängt er an zu schreiben. Wie ermiterleben muss, wie einer der wechselnden Freunde seiner Mutter seine kleine Schwester totschlägt und er daraufhin den Freund erschießt. Er erzählt von seiner Zeit als eines von zahlreichen Kindern bei einer Art Pflegefamilie/Kinderheim, wie er zur Armee ging, in den Irakkrieg zog, Scharfschütze wurde und irgendwann Killer.
Gleichzeitig lernt Summers seine neue Umgebung kennen, schließt gegen seinen Willen Freundschaft mit Nachbarn. Wie er gleichzeitig Vorbereitungen für sein eigenes Verschwinden trifft. Denn eines ist im längst klar: Am Ende wird ihn sein Auftraggeber lieber loswerden als bezahlen wollen. Die präsentierte Fluchtroute soll nicht ihn retten, sondern ihn als Mitwisser beseitigen.
Dass es am Ende schief geht, schief gehen muss, weiß der Leser von Anfang an. Dass ausgerechnet die Rettung einer jungen Frau ist, die im wahrsten Sinne des Wortes vor Summers Fenster abgeladen wird, macht es nur um so trauriger. Letztlich ist es aber genau der passende Baustein für eine Geschichte, in der der Killer so etwas wie der Gute und die Welt schlecht ist. Das ist dann irgendwie doch wieder typisch Stephen King. Auch hier: Leseempfehlung!
In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen!