Was Bücher angeht, habe ich derzeit einen Lauf. Das ist nicht immer so. Gerade wenn ich ein Buch beendet habe, das mir richtig gut gefallen hat, fällt es mir oft schwer, das passende nächste Buch zu finden. In manchen Fällen hilft es, radikal das Genre zu wechseln, etwa nach einer (Auto-)Biografie einen Science Fiction Roman zu lesen (oder zu hören).
Trotzdem brauche ich oft mehrere Anläufe, um mich auf ein neues Werk einlassen zu können. Das endet dann mit zwei oder drei angefangenen, aber nie beendeten Büchern, was ich doppelt traurig finde: zum einen wegen der verschenkten Zeit, zum anderen, weil mir das Buch unter anderen Umständen vielleicht gefallen hätte.
In den letzten Wochen war das anders. Empfehlungen aus den verschiedensten Ecken (an der Stelle möchte ich zum einen meine Mutter, zum anderen den Bücher-Podcast von Christine Westermann und Mona Ameziane, “Zwei Seiten”, empfehlen) haben mich im wahrsten Sinne des Wortes von Buch zu Buch getragen, ganz ohne dabei einen Stapel aus halbgelesenen Bücherresten zu hinterlassen. Drei möchte ich hier mit Euch teilen.
Maxim Leo, Wir werden jung sein
Als Verena einen Weltrekord schwimmt, weiß sie, dass etwas nicht stimmt. Die frühere Olympia-Schwimmerin hat ihre aktive Karriere schon vor Jahren wegen einer Herzerkrankung an den Nagel gehängt. Nur für ein Wohltätigkeits-Event ist sie noch einmal gegen andere ehemalige Spitzensportlerinnen angetreten. Nun ist sie auf einmal schneller unterwegs als die aktive Schwimm-Elite. Da kann doch etwas nicht stimmen – und da stimmt auch etwas nicht.
Verena ist eine von vier Teilnehmern einer Medikamentenstudie. Ein Jugendlicher mit angeborener Herzschwäche, ein alternder Immobilien-Patriarch, der nicht mehr lange zu leben hat, und eine Frau mittleren Alters, die verzweifelt versucht, ein Kind zu bekommen. An ihnen allen (außerdem an sich selbst und an seinem Hund) testet der Wissenschaftler Martin Mosländer von der Berliner Charité ein neues, bisher noch nicht am Menschen erprobtes Herz-Medikament. Doch das sorgt nicht nur dafür, dass die Herzen der Probanden wieder problemlos schlagen, es kehrt außerdem den Alterungsprozessum und lässt die fünf (und den Hund) körperlich immer jünger werden – mit teils dramatischen, teils kuriosen Auswirkungen. Denn: noch weiß niemand, wie man den Verjüngungsprozess kontrollieren soll.
So wird die Pubertät des herzkranken Jungen praktisch rückabgewickelt. Obwohl er nun sogar eine Freundin hat, will sein Körper von Dingen wie Sex nichts mehr wissen. Der Immobilienpatriarch, der gerade noch das Familienunternehmen an seine beiden Kinder übergeben wollte, spielt plötzlich wieder Tennis und beschäftigt sich mit der Frage, was er mit mutmaßlich unzähligen geschenkten Jahren eigentlich tun soll, und die verzweifelt unschwangere Frau wird nun doch schwanger – nur stellt das Kind in ihrem Bauch irgendwann ebenfalls sein Wachstum ein.
Die Politik beschäftigt derweil ganz andere Fragen: Was bedeutet so ein Medikament für die Menschheit? Ist es fair, wenn die Alten ewig leben? Und wer soll überhaupt in den Genuss eines solchen Geschenkes (oder Bürde?) kommen? Wenn die Menschheit das Altern besiegt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass man den Jüngeren verbieten muss, Kinder zu bekommen – die Ressourcen bleiben schließlich begrenzt. Und was bedeutet es für die Menschheit, wenn sie sich nicht durch Tod und Geburt selbst ständig erneuert?
Geschickt lässt Leo diese und weitere Gedanken in seine Geschichte einfließen, zum Teil durch praktische Herausforderungen, vor die er seine Protagonisten stellt. Außerdem lässt er immer wieder eine Ethik-Expertin zu Wort kommen, die Regierung und UN zum Thema ewige Jugend berät.
Für zusätzliche Spannung sorgt außerdem die Entführung des Vater des Medikaments, Martin Mosländer. Anders als erst vermutet sind es allerdings keine Super-Reichen, die an das Medikament kommen wollen, sondern eine Art Letzte Generation 2.0, die gerade denen helfen wollen, denen sonst keiner hilft. Mosländer wird gezwungen mehrere tausend Dosen für Obdachlose, Mittellose oder sonstwie Hilfsbedürftige herzustellen.
Am Ende bleibt wohl für jeden Leser die Frage: Was würde ich tun, wenn es so ein Medikament geben würde. Oder philosophisch gefragt: Was ist eigentlich der Sinn des Lebens – und was würde sich daran ändern, wenn das Leben nicht mehr endet?
Aber was für ein Buch ist das eigentlich? Zunächst einmal ist es eine sehr persönlich erzählte Geschichte des Chefs eines Weltunternehmens und Milliardenkonzerns. In Igers Zeit als CEO fallen mehrere große Zäsuren, die der Autor spannend und sehr menschennah erzählt. Etwa, wie er mit George Lucas über die Rechte an Star Wars verhandelte oder wie er Steve Jobs davon überzeugte, dass Pixar nicht nur Disney retten kann, sondern auch Pixar von dieser Verbindung profitieren könnte.
Mehr als einmal hatte ich als Leser dabei das Gefühl, fast auf Igers Bettkante zu sitzen und ihm beim Denken zuzuschauen. Das für sich genommen ist durchaus spannend. Es ist auch nicht der Grund, wieso das Buch von Menschen wie Bill Gates oder Steven Spielberg empfohlen wird. Es ist auch nicht das, was der Autor in erster Linie rüberbringen möchte.
Ihm gehe es, so Iger selbst, vor allem darum, die Prinzipien von echter Leadership zu vermitteln, zu zeigen, wie man Kreativität (und Kreative) führen muss, wenn man Erfolg haben möchte.
Das klingt zunächst einmal nach einer ziemlich ambitionierten, vielleicht auch etwas selbstherrlichen Ideen. Allerdings bringt Iger seine Geschichte und die Prinzipien, die er daraus ableitet (und am Ende des Buches außerdem noch einmal prägnant zusammenzufassen versucht) auf eine so sympathische, nahbare, ja fast schon demütige Art rüber, das man sich am Ende eigentlich nur bedanken möchte, dass man an seiner Reise teilhaben durfte.
Barbara Kingsolver, Demon Copperhead
Wow. Eigentlich eher ein Zufallsfund, der mich dann aber schnell nicht wieder losgelassen hat – und bei dem ich nach 864 Seiten traurig war, dass es nicht mehr waren.
Ich muss zugeben, dass ich von Barbara Kingsolver bisher noch nichts gehört hatte, auch wenn dies bereits ihr zehnter Roman ist. In dem geht es zum einen um das Schicksal des Jungen Damon. Schon dessen Geburt steht unter keinem guten Stern, er kommt in der Küche eines Wohnwagens auf dem dörflichen Virginia, USA, zur Welt. Die Mutter drogensüchtig, der Vater schon vor seiner Geburt bei einem Unfall ertrunken.
Schon als Kind muss er sich um seine überforderte Mutter kümmern, die sich erst einem Liebhaber in die Arme wirft, der Damon mit zweifelhaften Erziehungsmethoden misshandelt, und später, ausgerechnet an Damons elften Geburtstag an einer Überdosis Schmerzmitteln stirbt.
Damon, der zu diesem Zeitpunkt längst den Spitzname Demon – Dämon – verpasst bekommen hat und wegen seiner roten Haare auch Copperhead gerufen wird, wird von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, die alle vor allem eines gemein haben: die sind auf die finanzielle Unterstützung aus, die der Staat für die Aufnahme von Pflegekindern zahlt. So landet Damon zunächst auf einer Tabakplantage, später bei einem Möchtegern-Unternehmer und in einer Meth-Küche.
Dass er trotz allem nicht untergeht, oder zumindest nicht ganz, verdankt Demon zweierlei: seinem Talent, zu zeichnen, und sich mit seinen Zeichnungen (vor allem mit selbst erdachten Superhelden-Comic-Strips) irgendwie vor der Welt zu retten oder dieser wenigstens mit einer großen Klappe entgegen zu treten. Zum anderen Coach Winfield, der ihn nicht nur als Pflegesohn aufnimmt, sondern ihn außerdem ins Football-Team der Schule holt und fördert – bis eine Knie-Verletzung Damon erneut aus der Bahn wirft und in die Medikamenten-Abhängigkeit treibt.
In Demon Copperhead erzählt Kingsolver aber nicht nur das Schicksal des Jungen Damon. Sie erzählt außerdem die Geschichte des ländlichen Amerika in den 1990er und 2000er Jahren, des teils desaströsen Fürsorgesystems und der sich aktuell gerade wieder zuspitzenden Opiatkrise (Stichwort: Fentanyl).
Der Name des Buches ist dabei nicht zufällig an Charles Dickens “David Copperfield” angelehnt. Praktisch alle Figuren und der gesamte Handlungsstrang aus dem 1849 erschienen autobiografischen Roman finden bei Kingsolver seine Entsprechung.
Für den Leser ist das Buch nicht nur deswegen eine Herausforderung. Wie schon Dickens folgt auch Kingsolver der Prämisse: kill your darlings oder anders formuliert: Wenn Deine Hauptfigur Pech haben könnte, lass sie auch Pech haben.
Es tut beim Lesen fast körperlich weh, wenn man Damon etwa dabei begleitet, wie er mit seinen gesamten, den Sommer über hart erarbeiteten Ersparnissen abhauen will, bloß um dann von einer drogenabhängigen Prostituierten des Diebstahls bezichtigt und gezwungen zu werden, dieser das gesamte Geld “zurückzugeben”. Oder wenn Damon wegen eines einzigen, unfairen Fouls nicht nur seine Football-Karriere an den Nagel hängen muss, sondern außerdem in die Schmerzmittelabhängigkeit rutscht, weil der behandelnde Arzt offenbar besonders großzügig im Verschreiben von bestimmten Opiaten eines bestimmten Pharmaunternehmens ist (woraus besagter Arzt später übrigens ein spezielles Business aufbauen wird.).
Entsprechend fordert Kingsolver nicht nur ihrem Protagonisten einiges ab. Auch als Leser braucht man eine gewisse Leidensfähigkeit – die aber mit einer tollen Geschichte belohnt wird.
In diesem Sinne, nächstes Buch bitte (und alle Leselisten gibt es hier)!