Eine Stunde, länger darf man nicht bleiben. Das behauptete jedenfalls mein Vater, nachdem er den Eintritt für das städtische Hallenbad bezahlt hatte. Ob mein Vater das wirklich geglaubt hat oder ob es eine Notlüge war, um die Schwimmbadbesuche nicht ausufern zu lassen, weiß ich nicht. Vermutlich letzteres. Wenn es nach meinem sechsjährigen Ich gegangen wäre, wären wir den ganzen Tag im Schwimmbad geblieben.
Wasser war immer schon mein Element. Auch als ich noch nicht schwimmen konnte.
Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinen Großeltern in einem Hotel übernachtet habe, das ein Schimmbad im Keller hatte. Ich bilde mir ein, noch eine dunkle Erinnerung an diesen Tag zu haben. Vielleicht tue ich das aber auch nur, weil meine Eltern früher so gerne davon erzählt haben. Demnach konnte ich gar nicht genug davon bekommen, wieder und wieder aus dem Becken zu klettern, bloß um dann mit Anlauf erneut reinzuspringen. Mein Opa stand im Wasser und bemühte sich redlich, immer rechtzeitig an der Stelle zu sein, an der ich ins Wasser klatschte.
Anschließend forderte ich ihn auf, die Weite meines Sprungs schätzen. “Drei Meter! Mindestens!”, rief er dann, während ich mich mit stolzgeschwellter Kinderbrust für den nächsten Sprung bereit machte. Angst hatte ich keine, dafür ein unendliches Ur-Vertrauen in meinen Großvater, dass er schon rechtzeitig bei mir sein und mich aus dem Wasser fischte, bevor mir die Luft ausgehen würde.
Mit sechs Jahren meldeten mich meine Eltern in einem Schwimmverein an. Dort blieb ich fast meine gesamte Jugend durch aktiv, sieht man von ein paar Monaten ab, in denen ich plötzlich meinte, Handball wäre eine Sportart für mich (ich und Ballsport … aber man lernt ja aus seinen Fehlern).
Noch heute kribbelt es mir im Bauch und in den Beinen, wenn ich an das Gefühl denke, das ich jedes Mal hatte, wenn ich während eines Wettkampfs auf dem Startblock auf den Pfiff des Starters gewartet habe. Ein kurzer Moment der Aufregung an einem meist sehr langen Tag. Oft verbrachten wir sechs oder sieben Stunden in irgendeinem Schwimmbad, nur um in zwei oder drei Disziplinen an den Start zu gehen. Um so abrupter war jedes Mal der Wechsel aus Langeweile hin zu höchster Anspannung, wenn endlich der eigene Lauf aufgerufen wurde.
Dann das Eintauchen ins Wasser! Das Gleiten unter der Oberfläche, ein kurzer Moment der Schwerelosigkeit. Das Abpassen des Augenblicks, wenn der Schwung nachlässt, um wieder nach oben zu kommen und den ersten Armzug zu machen. Die Geräuschkulisse, die plötzlich aufflammt, wenn man den Kopf das erste Mal zum Atmen zur Seite dreht. Anfeuerungsrufe, Tröten, Eltern, die ihre Kinder anfeuern.
Lange bin ich selbst geschwommen. Mit mäßigem Erfolg. Stadtmeister und die Teilnahme an ein paar Landesmeisterschaften, zu viel mehr hat es nicht gereicht. Allerdings auch, weil ich das Schwimmen immer als Hobby, nie als Leistungssport begriffen habe. Es fand im Wasser statt, das war das Entscheidende für mich.
“Morgens vor der Schule Training, nach der Schule nochmal, mindestens fünf Tage in der Woche, dann bringe ich ihn zu Olympia”, hat mal ein Trainer zu meinen Eltern gesagt. Ich muss elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, erst seit ein oder zwei Jahren auf dem Gymnasium. Der Trainer war vor 1989 aus der DDR in den Westen geflohen und hatte einige der Methoden von dort mitgenommen. Er galt als Erfolgstrainer, aber auch als einer, der gerne mal Kinder im vereinseigenem Freibad ausrufen ließ, wenn diese lieber plantschten statt zum Training zu kommen. Meine Eltern lehnten ab, es blieb bei drei Mal Training in der Woche.
Ein Vorteil des Schwimmvereins war, dass mich der alle paar Halbjahre stattfindende Schwimmunterricht in der Schule nicht schrecken konnte. Endlich ein Sportunterricht, bei dem ich nicht nur Mittelmaß war, sondern scheinbar mühelos punkten konnte und sogar noch Spaß dabei hatte.
Mit 16 oder 17 Jahren wechselte ich im Verein aus dem Wasser an den Beckenrand, trainierte die Nachwuchs-Wettkampfgruppe und fuhr an den Wochenenden als Kampfrichter statt als Schwimmer zu Wettkämpfen. Außerdem engagierte ich mich in verschiedenen Funktionen im im Verein. Das ging gut, bis ich zur Bundeswehr kam und unter der Woche nicht mehr zuhause wohnte.
Wie sehr mir das Wasser gefehlt hatte, merkte ich, als mich einige Jahre später eine alte Freundin überredete, regelmäßig mit ihr Schwimmen zu gehen. Ich war wieder angefixt, besorgte mir schließlich sogar eine der begehrten “Limit-Karten”, mit der man im Schwimmsport-Leistungszentrum meiner Heimatstadt trainieren konnte. Ich schwamm beinahe täglich, immer früh morgens, bevor ich mich für meine Bachelor-Arbeit an den Schreibtisch oder in die Bibliothek setzte. Anfangs zwei, später drei und manchmal sogar mehr als vier Kilometer pro Einheit.
Das tat gut. Ich finde noch heute, Schwimmen erschöpft anders als andere Sportarten, irgendwie tiefer. Ich glaube, das habe ich selbst als Kind schon so empfunden. Ich erinnere mich vor allem an die Freitage, an denen das Training bis 20 Uhr ging. Danach durfte (ausnahmsweise!) in einer Decke gekuschelt vor dem Fernseher gegessen werden. Der beste Moment des ganzen Wochenendes.
Wenn ich heute schwimme, dann vor allem mit mindestens einer Tochter am Arm, die mich ausdauernd auffordernd, einen Reifen im Becken zu versenken, damit sie ihn wieder hochholen kann. Sport findet stattdessen im Fitnessstudio statt, was sich leichter in meinen Alltag integrieren lässt.
An der Faszination, die Wasser in jeder Form, am liebsten kalt, für mich ausübt, hat das nichts geändert. Manchmal träume ich sogar vom Schwimmen. Dann allerdings meist nicht in irgendwelchen Schwimmbädern, sondern im Meer, wo es möglichst große Wellen gibt. Könnte man sicherlich traumdeuterisch bewerten. Für mich ist es vor allem: Wasser und Schwimmen.
In diesem Sinne, auf ins Freibad!