Bücherwelten

Wellness, häusliche Gewalt und der Lincoln Highway – meine Leseliste Teil 8

Am Ende waren es 29. Das sind drei Bücher mehr als im Vorjahr, aber natürlich immer noch deutlich weniger als die 52 im Jahr 2018. Aber es geht ja nicht nur um Quantität, oder? Qualitativ waren bei den 29 gelesenen Büchern in den vergangenen 12 Monaten durchaus einige Kracher dabei. Hier eine Auswahl – bei der ich, zugegeben, geschummelt habe. Nathan Hills „Wellness“ habe ich erst in diesem Jahr auf die Gelesen-Liste geschrieben (ist auch noch recht frisch erschienen). Es lohnt aber so sehr, dass ich nicht auf die nächste Leseliste warten wollte.

Nathan Hill, Wellness

In den Kritiken wurde der Roman gerne als „Ehe-Roman“ bezeichnet. Das trifft es – und trifft es wieder nicht. Denn eigentlich geht es bei „Wellness“ vielmehr ganz allgemein um die Frage, wie wichtig Geschichten für unser Selbstbild sind. Die Geschichte eines Kennenlernens, auf die ein Paar sich nach und nach verständigt. Die Geschichte hinter unserer Berufswahl. Die Geschichte hinter unserer Persönlichkeit und die vielen kleinen Geschichten, mit denen wir rückblickend unser Leben erklären und vielleicht auch verklären.

Nebenbei werden in dem Buch noch Verschwörungstheorien auf Facebook, die Kulturgeschichte der amerikanischen Malerei, Gentrifizierung, Wünsche an das Universum, Placebo-Theorie und vieles mehr abgehandelt. Das alles aufwendig zu einer Romanhandlung komprimiert, die psychologisch sehr dicht ist, wenn sie auch manchmal etwas aus- und weitschweifend erzählt wird.

Also, worum geht es: Das Buch beginnt mit dem Kennenlernen von Jack und Elisabeth, beide Studenten, die in gegenüberliegenden Wohnungen in Chicago leben. Als sie an einem Weihnachten in den frühen 1990ern einzieht, beginnt Jack Elisabeth durch sein Fenster zu beobachten. Zumindest an den Abenden, an denen sie da ist. An manchen Abenden ist ihr Fenster dunkel. Allerdings nicht, weil sie, wie er annimmt, ausgegangen ist, sondern weil sie ihrerseits ihn beobachtet.

Beide lernen sich kennen, heiraten und zeugen einen Sohn. Allerdings ist die Ehe der beiden 15 Jahre später etwas abgenutzt und gerät vollends aus den Fugen, als sie ihre vermeintliche Traumwohnung kaufen und einrichten wollen.

Soweit der Rahmen, den Hill aber schnell erweitert. Geschickt springt er zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen und zwischen den beiden Protagonisten hin und her und seziert dabei nicht nur deren Partnerschaft, sondern auch deren Persönlichkeiten. Immer wiederkehrendes Motiv: Geschichten. Als Jack, der an der Uni Kunst und Fotografie, in den 1990ern Online-Pornografie für sich entdeckt und in Ermangelung eines eigenen Computers Fotos von den auf den Uni-Computern heruntergeladenen pornografischen Bildern macht und dabei erwischt wird, erklärt er das Ganze kurzerhand zum Kunstprojekt. Sein Dozent findet die von Jack improvisierte Geschichte so gut, dass er ihm zu seiner ersten Ausstellung verhilft.

Der Leser erfährt diese Zusammenhänge oft scheibchenweise. Genau das macht den Reiz aus. Hill beschreibt die Motive einer Figur schlüssig und nachvollziehbar – bloß um dem Leser viele Seiten später die andere, die wahre Seite der Geschichte zu eröffnen.

Bei Jack und Elisabeths erstem Date eröffnet Elisabeth das Gespräch mit der Frage: „Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie sehr haben Dich Deine Eltern als Kind geliebt?“. Diese Frage hat sie kurz zuvor schon einem anderen jungen Mann gestellt, der sie zu Tode gelangweilt hatte und auch auf diese Frage keine interessante Antwort geben konnte. Zwischen Jack und Elisabeth dagegen erwächst auf diese Frage ein lebhaftes und immer intimer werdendes Gespräch über Kindheit und Liebe auf den ersten Blick und schließlich eine innige Beziehung.

Erst sehr viel später erfährt der Leser: all das war Teil eines psychologischen Experiments, das Elisabeth zu dieser Zeit mit unzähligen Männern durchgeführt hat. Das Gespräch folgte dabei einem immer gleichen, durchoptimierten Fragenschema mit dem Ziel zu beweisen: Liebe auf den ersten Blick lässt sich künstlich herbeiführen.

Anika Landsteiner, So wie Du mich kennst

Zwei Schwestern. Die eine, Marie, lebt als aufstrebende Fotografin in New York; die andere, Karla, als Dorfjournalistin in der bayerischen Provinz. Beide sind sich trotz der Distanz sehr nah, glauben, alles von einander zu wissen. Dann stirbt Marie bei einem Unfall und Karla fliegt nach New York, um die Wohnung der Schwester aufzulösen.

Je mehr Karla allerdings in Maries Leben eintaucht, desto weniger scheint sie diese zu kennen. Da ist ein Ordner auf ihrem Computer, der verstörende Bilder zeigt. Erst später erfährt der Leser, was auf diesen zu sehen ist.

Da taucht eine Affäre auf, von der Marie zwar ihrer Freundin in New York erzählt hat, die sie ihrer Schwester in Deutschland aber verschwiegen hat – und die sich letztlich auch nicht als Affäre herausstellt.

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der beiden Schwestern: Karla, die in New York immer tiefer in das Leben der verstorbenen Schwester eintaucht, und Marie, die die Wochen und Monate vor ihrem Unfall schildert und in Rückblicken außerdem von ihrer gescheiterten Ehe mit einem Amerikaner erzählt, wegen dem sie seinerzeit in die USA gezogen ist.

Ein Stück weit überschneiden sich diese Geschichten, was beim Lesen, was die unterschiedlichen Sichtweisen und das unterschiedliche Erleben der Schwestern deutlich macht. Gleichzeitig nähern sie sich dabei dem Hauptthema des Buches an: Gewalt gegen Frauen und vor allem häusliche Gewalt. Erst nach und nach beginnt Karla und beginnt auch der Leser zu ahnen, dass das Paar in der Wohnung gegenüber Probleme hat und dass Marie dies fotografiert hat.

Sowohl Marie als auch Karla nähern sich der Frau von gegenüber an, wollen helfen, sind aber gleichzeitig machtlos, weil die Frau sich nicht helfen lassen will. Bis plötzlich die Polizei- und Krankenwagen vor der Wohnung stehen und ein Toter herausgebracht wird – der sich aber als der gewalttätige Ehemann herausstellt. Unklar bleibt, sowohl für den Leser als auch für Karla, ob dessen Tod wirklich nur die Folge eines angeborenen Herzfehlers war – oder ob die Frau von gegenüber nachgeholfen hat.

Ebenfalls erst nach und nach beginnt der Leser zu ahnen, dass es wohl auch in Maries gescheiterter Ehe ein Problem mit häuslicher Gewalt gab und dass dies Marie stärker geprägt hat, als sie sich vielleicht anfangs selbst zugestehen wollte.

Genau das ist die große Stärke des Buchs: das nach und nach Entblättern. Früh streut die Autorin erste Fährten, lässt den Leser etwas ahnen, das doch eigentlich nicht sein kann, bis er schließlich nicht mehr wegsehen kann.

Gleichzeitig geht es um Fragen wie die Bedeutung von Familie, Freundschaft, Selbstbild und Selbstverwirklichung, Heimat und Ankommen. Insgesamt: ein sehr lesenswertes Buch!

Amor Towles, Lincoln Highway

Lincoln Highway ist ein Roadmovie, ein Buch über das Amerika des Jahres 1954 und ein Buch über die Frage, was richtig und was falsch ist. Der 18-jährige Emmett kehrt aus dem Gefängnis, einer Art Jugendbesserungsanstalt, nach Hause in eine Kleinstadt in Nebraska zurück. Sein Vater ist an Krebs gestorben und er will sich fortan um seinen achtjährigen Bruder Billy kümmern. Gemeinsam wollen sie ihre Mutter suchen, die die Familie vor Jahren verlassen hat und die, das legen Postkarten nahe, die im Nachlass des Vaters aufgetaucht sind, dem Lincoln Highway, der ersten Fernstraße der USA, bis nach San Francisco, Kalifornien gefolgt ist und mutmaßlich noch immer dort ist.

Bevor es jedoch soweit kommt, stehlen zwei Mithäftlinge von Emmett, Wooley und Duchess, die Emmett heimlich gefolgt sind, dessen Wagen. Ihr Ziel: New York und später der Landsitz von Woollys wohlhabender Familie, wo diesem angeblich ein beträchtliches Vermögen vorenthalten wird.

Erzählt wird die sich daraus ergebene Geschichte, die insgesamt nur den Zeitraum von zehn Tagen umfasst, aus wechselnden Perspektiven. Mal folgt der Leser dem achtjährigen Billy, wie er als blinder Passagier in einem Zug beinahe von einem vermeintlichen Geistlichen beraubt wird, dann wieder dem etwas einfältigen Woolly, der sich an seine Familie erinnert. Mal begleitet der Leser den aufrichtigen Emmett und erfährt dabei gleichzeitig mehr über die unglücklichen Umstände, weswegen er im Gefängnis gelandet ist. Dann tauchen wir ein in die Vergangenheit von Duchsess, der als einziger gar keine Straftat begangen hat, sondern von seinem eigenen Vater verraten wurde und deshalb eingesperrt wurde – sich aber nun an all denen rächt, die ihm oder seinen Freunden Unrecht getan haben und deswegen von der Polizei verfolgt wird.

Towles erzählt all das auf eine Art und Weise mit einer Sprache, die einen als Leser zurückversetzt in die 1950er in den USA. Gleichzeitig verwebt er die Erzählstränge immer enger, bis sie sich schließlich am Ende wieder zur einer einzigen Geschichte vereinen, die zumindest mir noch lange im Kopf rumgegeistert ist und bei der ich traurig war, als ich sie ausgelesen hatte. Klare Empfehlung!

In diesem Sinne, nächstes Buch bitte (und alle Leselisten gibt es hier)!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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