Beim ersten Mal, als ich mir die Frage stellte, war ich gerade an Land gegangen. Zwei Wochen lang war ich mit der Fähre von einer griechischen Insel zur nächsten gefahren, hatte hier ein paar Tage verbracht, dann dort. Ich war allein unterwegs gewesen. Auf einigen Inseln hatte ich in Hotels übernachtet, auf anderen in Hostels. Letzteres bevorzugte ich, denn man kam schneller mit anderen Reisenden ins Gespräch. Außerdem war ich ja nicht dort, um im Hotelzimmer zu sitzen, sondern um mir die jeweilige Insel anzuschauen. Dafür brauchte ich kein Zimmer, dafür reichte ein Bett.
Nachdem ich eingecheckt hatte, führte die Dame von der Rezeption mich zu einem Vierbettzimmer. Das war ungewöhnlich, normal bekam man einfach einen Zimmerschlüssel oder eine Schlüsselkarte in die Hand gedrückt.
Noch hätte ich die Wahl, verkündete die Rezeptionistin freundlich und deutete mit der Hand großzügig in den kleinen Raum. “Die beiden Betten dort hinten sind noch frei.” Sie blieb noch einen Augenblick in der Tür stehen, dann verschwand sie wieder und ließ mich mit meinen beiden neuen Mitbewohnern allein: einer jungen Deutschen von etwa 20 Jahren und einem Italiener, den ich auf Mitte 20 schätzte.
Was die Betten anging, hatte die Rezeptionistin so halb Recht: Ja, ich hatte die Wahl. Diese bestand aber im Wesentlichen daraus, dass ich mir aussuchen konnte, ob ich lieber auf der rechten oder auf der linken Seite des Bettes schlafen wollte. Theoretisch handelte es sich bei dem Bett zwar tatsächlich um zwei Betten mit zwei Bettgestellen, zwei Matratzen und zwei Decken. Praktisch spielte das allerdings keine Rolle, denn beide standen so eng nebeneinander, dass sich die Bettlaken an den Seiten berührten und sie zusammen ein Doppelbett bildeten. Anders hätten die beiden Betten auch gar nicht in das Zimmer gepasst, dafür war der Raum schlicht zu klein.
Das war das erste Mal, dass ich mich fragte, ob ich vielleicht zu alt für dieses Hostel-Ding war. Und schlimmer noch: ich glaubte in den Gesichtern meiner beiden neuen Mitbewohner genau den gleichen Gedanken zu sehen. War die Rezeptionistin vielleicht sogar deswegen einen Moment im Türrahmen stehen geblieben? Um den Beiden die Möglichkeit zu geben, gegen mich, den komischen alten Mann von etwa 30 Jahren als Mitbewohner zu protestieren?
Für einen Moment zog ich diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht. Ich selbst hatte diesen Gedanken schließlich auch schon gehabt – nur war es dabei bisher nie um mich selbst gegangen.
Um mir mein Studium zu finanzieren habe ich einige Jahre als Nachtportier in einem Berliner Hostel gejobbt. Das war um 2005 rum und zu dieser Zeit tobte in Berlin das, was ich rückblickend als “Hostelkrieg” bezeichnen würde: neue Häuser schossen beinahe im Wochenrhythmus aus dem Boden und versuchten einander mit immer günstigeren Angeboten zu unterbieten, um sich möglichst schnell ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu sichern. Die (damals noch) kleine Kette, für die ich arbeitete, gehörte, was den Standard anging, zu den gehobeneren Häusern, dennoch verschacherten wir in manchen Nächten das Bett im Mehrbettzimmer („Dorm“) für unter 10 Euro – Frühstücksbuffett inklusive.
Den Job als Nachtportier hatte ich mir bewusst ausgesucht. Ich war gerade von meiner großen Backpackertour nach dem Abschluss meines ersten Studiums zurückgekommen und hatte unterwegs fast ausschließlich in Hostels übernachtet. Nun hoffte ich, mir durch den Nebenjob ein kleines bisschen Reisefeeling im Alltag erhalten zu können.
Das funktionierte so lala. Die meisten Nächte war ich eher damit beschäftigt, für Ruhe zu sorgen, weil entweder wieder einmal vier Klassenfahrtgruppen gleichzeitig im Haus untergebracht waren oder, das war vor allem im Sommer der Fall, eine Gruppe Backpacker in der Partymetropole Berlin ordentlich einen über den Durst getrunken hatte und nun die Party auf dem Hostelflur fortsetzten wollte. Nicht immer war das eine klar vom anderen zu trennen.
Selten kam ich mal mit wirklich interessanten Gästen ins Gespräch. Auch die Gespräche der meisten Reisenden untereinander beschränkten sich auf die drei großen W-Fragen: Wo kommst Du her? Wo reist Du hin? Wo bist Du schon überall gewesen? Nicht wirklich tiefsinnig, wobei ich mich erinnerte, das anders wahrgenommen zu haben, als ich selbst noch unterwegs gewesen war.
Da das Hostel explizit damit warb, sowohl Hostel als auch Hotel zu sein, gab es allerdings auch Gäste älteren Semesters. Die hatten dann in der Regel kein Bett im Mehrbettzimmer, sondern ein Einzel- oder ein Doppelzimmer gebucht, manchmal sogar noch ganz klassisch per Reisebüro. Manche von ihnen wussten gar nicht, dass sie möglicherweise Tür an Tür mit einem Jungenzimmer voller Zehntklässler untergebracht werden würden und erwarteten ein gewöhnliches Hotel, was die Arbeit als Nachtportier nicht unbedingt erleichterte. Ich verstand nämlich sehr gut, warum diese Menschen sich spätestens am nächsten Morgen über die Art der Unterbringung beschwerten.
Tatsächlich komisch kam mir eine andere Spezies Reisender vor: nämlich die, die ich dem Alter nach eher in die Gruppe Einzelzimmer einsortiert hätte, die dann aber explizit nach einem Bett im Achter-Dorm (= vier Doppelstockbetten in einem Zimmer) verlangte. Optional wollten sie anschließend noch wissen, wann die Hostelbar öffnen würde und ob wir irgendwelche Gemeinschaftsaktivitäten wie Stadtführungen anbieten würden.
Irgendwie schienen diese Menschen den Absprung verpasst zu haben, dachte ich damals. Dem Alter nach wären sie in einem gewöhnlichen Hotel besser aufgehoben und leisten konnten sie es sich wahrscheinlich auch. Wieso taten sie sich das an, zwischen lauter 20-Jährigen im Zimmer zu schlafen?
Nun gehörte ich also selbst auch dazu, dachte ich, während ich in Griechenland vor dem Beinahe-Doppelbett stand und mich weder für die linke noch für die rechte Seite entscheiden konnte.
Später am Abend traf ich meine deutsche Zimmernachbarin an der Promenade. Sie war gerade auf dem Weg zum Hostel, ich lief in die Gegenrichtung und wollte irgendwo ein Bier trinken gehen. Sie entschied sich, mir Gesellschaft zu leisten. Nachdem wir uns kurz den W-Fragen gewidmet hatten, sprach ich sie auf meine Überlegung an. “Darüber habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht nachgedacht”, sagte sie. Es stimme aber, sie habe irritiert geguckt, als ich das Zimmer betreten hatte. “Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob sie dieses Doppelbett wirklich vermieten wollen und wenn ja: an wen? Ich meine, wenn jemand viertes in das Zimmer zieht, musst Du mit ihm oder ihr praktisch das Bett teilen.”
Zum Glück passierte das nicht. Die nächsten drei Tage blieben wir zu dritt in dem Zimmer, dann musste ich nach Athen zurück, um meinen Flieger nach Hause zu bekommen. Hier schlief ich tatsächlich noch einmal in einem Hostel, merkte aber, dass ich mich dabei einfach nicht mehr wohl fühlte. Möglichst schnell jemanden kennen zu lernen, um mit ihm oder ihr auf die Rolle zu gehen war mir auch nicht mehr so wichtig. Zumindest nicht wichtiger, als mich hin und wieder mal ganz zurückziehen zu können. Mit anderen Worten: meine wilde Hostelzeit war wohl einfach vorbei – und das war auch in Ordnung so.
In diesem Sinne, das Bild oben zeigt übrigens nicht mein Hostel in Griechenland, sondern wurde im Auswandererhaus in Bremerhaven aufgenommen, was ich übrigens sehr empfehlen kann. Nicht so empfehlen kann ich die Zimmer in dem Hostel in Athen – die sahen so aus: