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Doppelt Papa oder: ich bin im Zeit-Tunnel

“Fragen Sie nicht, ob jemand in den letzten zwölf Monaten Opfer eines Verbrechens geworden ist. Nehmen Sie immer ein konkretes Ereignis wie Weihnachten als Referenz. Sonst schummeln die Leute!”

Das waren die Worte meines Statistik-Profs aus dem ersten Studium. In der Vorlesung ging es darum, Fragebögen zu erarbeiten. “Gerade bei emotionalen Themen sind die Leute sonst überfordert. Entweder sie dehnen den Zeitraum bei der Beantwortung der Frage großzügig auf 18 oder auch 24 Monate aus, weil das Ereignis für sie so wichtig war, dass es unbedingt mit in das Befragungsergebnis einfließen soll. Oder sie kriegen für sich schlicht nicht sortiert, welchen Zeitraum die letzten zwölf Monate tatsächlich umfassen.”

Tatsächlich stelle ich an mir selbst immer wieder fest, dass mein Prof damals Recht gehabt hat. Der Prozess, in dem aus einem “kürzlich” ein “damals” und irgendwann ein “früher” wird, ist fließend. Die Zeit vergeht heimlich. Daher hilft es, sich Referenzpunkte zu suchen.

Behauptet mein Gehirn, dass es doch gerade erst Frühling war und fragt sich, wieso der Sommer trotzdem schon wieder rum ist, helfe ich ihm auf die Sprünge, indem ich innerlich all die Ereignisse aufzähle, die seit Sommerbeginn stattgefunden haben. Dann ist es nämlich nicht mehr “gerade erst Frühling” gewesen, sondern tatsächlich schon eine ganze Weile Sommer.

Helfen tun mir dabei die von meinem Prof empfohlenen Wegmarken. War diese oder jene Veranstaltung vor meinem Urlaub – oder erst danach? Habe ich das vor dem Sommerfest erlebt – oder erst danach?

Lange hat das gut funktioniert. Seit ich Kinder habe, bekommt dieses System aber Risse. Es ist, als würde die Zeit verschwimmen. Je länger ich Vater bin, desto stärker verwaschen die Konturen.

Es fällt mir plötzlich schwer, selbst so einschneidende Ereignisse wie den Kindergarten-Start meiner Töchter auf der Zeitachse zu verorten. Was komisch ist: denn gerade seit ich Vater bin, häufen sich die potenziellen Referenzpunkte doch: erstes Wort, erster Schritt und so weiter.

Aber vielleicht ist genau das das Problem. Oder wenigstens ein Teil des Problems. Es sind einfach zu viele Wegmarken und anders als Weihnachten, Geburtstag oder große Urlaube sind sie alle neu und ungewohnt.

Ab der Geburt meiner zweiten Tochter fangen sie außerdem an, sich zu wiederholen, teilweise aber in anderen Abständen. Wie soll man als ohnehin chronisch überlastete Eltern da noch mitkommen? Zumal es genug Tage gibt, an denen ich ohnehin das Gefühl habe, nur irgendwie zu funktionieren, abzuarbeiten, was privat und beruflich ohnehin auf mich zukommt. Wie soll ich mich da auch noch später an die richtige Reihenfolge erinnern?

Auch wenn im Alltag vieles plötzlich viel, viel länger dauert, nimmt das Leben ordentlich Fahrt auf, wenn man Kinder hat. Plötzlich bestimmt man auch nicht mehr selbst das Tempo. Sie tun es. An sich ist es also kein Wunder, dass der Blick aus dem Fenster oder gar in den Rückspiegel an manchen Tagen etwas verschwommen ist.

Dem Felix in mir, der sowieso von der permanenten Angst verfolgt wird, Erinnerungen zu vergessen, hilft hier, was immer schon geholfen hat. Ich schreibe auf. Ich mache Bilder. Ich sortiere. Und ich hoffe, dass mein Leben (und meine Erinnerung) irgendwann wieder geordneter sein wird als jetzt.

In diesem Sinne, gut festhalten, bremsen bringt eh nichts!

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Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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