Gedankenwelten

Briefkino

Vielleicht war der Fahrtwind schuld. Das war jedenfalls mein erster Gedanke. Ich hatte den Brief in die Innentasche meiner Jacke gesteckt, bevor ich zur Arbeit gefahren war, um ihn unterwegs einzuwerfen. Die Jacke hatte ich allerdings offen gelassen. Als ich vor dem Briefkasten anhielt, um den Brief aus der Tasche zu ziehen, war diese leer.

Der Brief musste mir irgendwo auf den paar hundert Metern zwischen meiner Wohnung und dem Briefkasten aus der Tasche gefallen sein. Nur fand ich ihn dort nirgendwo, obwohl ich die Strecke zwei Mal abfuhr und konzentriert den Weg und die Umgebung absuchte.

All zu schwer war der Umschlag nicht gewesen, vielleicht war er ja auf die Straße geweht worden. Oder auf die Straßenbahnschienen, die ich unterwegs überquert hatte. Oder hatte jemanden den Brief gefunden? Der- oder diejenige könnte nett sein und den Brief einwerfen – oder aber auch nicht. Vielleicht erfreute sich der Finder nun an den persönlichen Dingen, die ich in dem Brief geschrieben hatte, las gerade in diesem Augenblick die Artikel auf Felix-Welt und was er oder sie sonst noch im Internet über mich fand. Möglich war das, die Welt ist schließlich voll von komischen Leuten!

Oder hatte ihn womöglich sogar ein Bekannter oder ein Nachbar gefunden? Wenn mir der Brief schon im Hausflur aus der Tasche gefallen war? Eine Zeit lang waren regelmäßig Zeitungen aus dem Hausflur geklaut worden, warum nicht nun auch noch Briefe? Der Brief war an eine gute Freundin gerichtet, es wäre mir schon unangenehm, wenn der Inhalt von Fremden gelesen würde – richtig unheimlich war allerdings die Vorstellung, dass ihn Menschen lesen würden, die ich persönlich kannte.

Sicherheitshalber checkte ich meinen eigenen Briefkasten und zusätzlich die Papiertonne. Vergeblich. Auch in meinem Flur lag der Brief nicht. Ich hatte ihn also auch nicht gedankenverloren wieder zurück auf den kleinen Tisch gelegt, wie ich mir einen Moment selbst einzureden versuchte. Der Brief blieb verschwunden.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als zur Arbeit zu fahren. Über die Eisenbahnschienen und vorbei an dem Briefkasten … ja, und da lag er dann: genau an der Stelle, wo ich die Hand in die Innentasche meiner Jacke gegriffen hatte, um den Umschlag wieder vorzuziehen. Als mir aufgefallen war, dass der Brief fehlte, hätte ich also eigentlich nur einmal kurz auf den Boden schauen müssen …

In diesem Sinne, unnötiges Kopfkino mit Brief? Kann ich!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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