Ich hatte immer Angst vor diesem Moment. Ich bin hier aufgewachsen. Als meine Eltern mit mir hier einzogen, war ich zwei Monate alt. Als ich aufzog war ich über 20 Jahre alt und gerade von einer Weltreise zurück. Kindheit, Pubertät, Volljährigkeit – alles hier. Alles in diesem Haus. Jetzt ist es verkauft. Jemand anders wohnt nun hier. Jemanden, den ich nicht kenne.
Nach über 40 Jahren habe ich keinen Schlüssel mehr für diese Haustür, die ich auch nach meinem Auszug noch über 20 Jahr lang regelmäßig aufgeschlossen haben. Immer dann, wenn ich meine Eltern besucht habe. Wenn ich in die Straße einbiege, in der das Haus steht, ist das nicht mehr meine Straße.
Ich hatte immer Angst vor diesem Moment. Aber jetzt, wo es so weit ist, fühlt es sich gar nicht so schlimm an.
Einmal war ich noch im Haus. Die Möbel waren schon alle herausgetragen worden. Abendlicht schien durch die Fenster. Ohne die Bilder an den Wänden und ohne die bekannte Einrichtung fühlte es sich schon ein bisschen fremd an. Ich musste mich anstrengen, um zwischen den leeren Wänden noch Erinnerungen zu finden.
Dafür kommen die jetzt nachts. In letzter Zeit habe ich öfter von dem alten Haus geträumt. Dabei war das Haus nicht Teil der Träume. Es war nur eine Art Kulisse. Die Handlung fand halt hier statt, hätte aber auch irgendwo anders stattfinden können. Ganz selten gab es Szenen, in denen das Haus oder einzelne Zimmer eine echte Rolle spielten.
Ich kenne Menschen, die in ihrer Kindheit zwei, drei, vier Mal umgezogen sind, teilweise über Landesgrenzen hinweg. Diese Menschen können das vielleicht gar nicht verstehen. Ein Haus oder eine Wohnung war für sie nur ein Ort, an dem man einige Jahre lang gelebt hat. Ich dagegen hatte immer den gleichen Bezugspunkt.
Hier wurden Kindergeburtstage gefeiert und adoleszente Krisen durchlitten. Hierher kamen wir nach Familienurlauben zurück, hier blieb ich die ersten Male allein, als ich mich zu alt fühlte, um noch mit meinen Eltern zu verreisen. Hierhin brachte ich die ersten Mädchen mit. Während der Bundeswehr kam ich an den Wochenenden hierhin zurück. Hierhin pendelte ich, als ich anfing zu studieren und als ich auf Weltreise ging, wusste ich, dass dieses Haus danach zumindest für eine Zeit wieder mein Zuhause sein würde.
Auch als ich längst nicht mehr hier wohnte, war ich noch gerne hier. Weihnachten fast immer hier, oft für eine Woche oder sogar länger, zumindest bis ich selbst Kinder hatte.
Das Haus war eine Art Anker, auch später noch. Meine eigenen Wohnorte wechselten, doch dieser Ort blieb gleich. Er blieb auf seine Weise verlässlich, selbst als es auch hier zeitweise schwierig war.
Jetzt ist der Anker weg und ich stelle fest, dass ich ihn, vielleicht, gar nicht mehr brauche. Auch das ist ein komisches Gefühl.
In diesem Sinne, tschüss Haus! Tschüss Anker!