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Stundenzeiger

Den jungen Kerl würde sie auch nicht von der Bettkante stoßen, befand I. und deutete auf das Foto mit einem Mann in Jeans und Poloshirt neben einer Plastikkuh, der uns beide aus meinem Fotoalbum heraus anlächelte. Wäre der Mann auf dem Bild nicht ich selbst gewesen, ich hätte wohl protestiert. Und ich war kurz davor. Es dauerte nämlich eine Weile, bis ich endgültig sicher war: Ja, das bin wirklich ich.

Das Foto war in Buenos Aires aufgenommen worden. Ziemlich genau acht Jahre ist das jetzt her. Damals war ich mit dem Rucksack und einem Round-the-World-Flugticket unterwegs gewesen. Argentinien war die erste Station meiner Reise gewesen.

Eigentlich denke ich noch verhältnismäßig oft an diese Zeit zurück. Ich rede auch gerne darüber. Es ist allerdings lange her, dass ich jemandem die Fotoalben von damals gezeigt habe. Um so komischer war es, die alten Bilder gemeinsam mit I. anzuschauen, die mich erst Jahre, nachdem sie aufgenommen wurden, überhaupt kennengelernt hat. Mit ihr gemeinsam noch einmal in diese Zeit zurück zu reisen war auch für mich eine neue Erfahrung.

Mit keinem Menschen verbringt man mehr Zeit als mit sich selbst. Wie man sich im Laufe der Jahre verändert, bekommt man daher nur sehr bedingt mit. Es ist, als wenn man bei einer Analoguhr stundenlang auf den Stundenzeiger starrt. Für einen selbst sieht es immer aus, als würde der Zeiger stillstehen. Erst wenn man sich daran erinnert, wo der Zeiger vor ein, zwei oder drei Stunden gestanden hat, wird einem bewusst, dass er sich offensichtlich doch bewegt haben muss.

Im Fotoalbum stand der Stundenzeiger nun plötzlich wieder auf November 2004. Wie weit sich der Zeiger seitdem bewegt hat, war mir lange gar nicht richtig klar. Vielleicht wollte ich es auch nicht so genau wissen. I. war da schmerzfreier. Für sie war es einfach nur interessant, den damaligen (ihr gänzlich unbekannten) Zeigerstand mit dem von heute zu vergleichen.

In diesem Sinne, wie spät ist es eigentlich?

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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