Gedankenwelten

Schauspielschüler

In den 1950ern machte ein junger, kanadischer Soziologe mit einem Buch von sich reden, das den schönen Titel The Presentation of Self in Every-day Life trug. Der Soziologe, der es geschrieben hatte, hieß Erving Goffman. In Deutschland wurde das Buch kurz darauf übersetzt und unter plakativeren Namen Wir alle spielen Theater veröffentlicht. Es gilt mittlerweile als Klassiker der modernen Soziologie.

Goffman beleuchtet darin auf knapp 250 Seiten den ganz normalen Alltag indem er die Menschen mit Schauspielern gleichsetzt, die in der Welt und gegenüber allen anderen Menschen bestimmte Rolle spielen. Letztlich versuche jeder, ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, eine Fassade zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Dabei kann er sich aus einem ganzes Bündel an vorgefertigten Rollen bedienen, die jeweils von seiner Funktion in dem Moment, aber auch von den Menschen abhängen, mit denen er zusammen ist.

Jeder Schauspieler / Mensch hat aber auch einen Rückzugsbereich, der naturgemäß hinter der Bühne und außerhalb der Sicht der anderen Menschen liegt. Hier kann er aus der Rolle fallen, in der Nase bohren und zumindest versuchen, unabhängig von seiner Fassade zu existieren. Was aber, wenn andere Menschen Zugang zu diesem backstage-Bereich verlangen? Im Volksmund nennt man das wohl Beziehung.

Um in einer Beziehung, zunächst mal unabhängig davon, ob es sich um eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung handelt, Nähe zu schaffen muss man anfangen, auf Teile seiner Fassade zu verzichten. Stück für Stück gewährt man Zugang zu dem, was hinter den Rollen steckt.

Doch wie weit kann und will man gehen? Wo liegt die Grenze? Reicht es schon, wenn man aufhört, die schmutzige Unterwäsche weg zu räumen, wenn die Partnerin/der Partner zu Besuch kommt? Oder muss man gleich das Tagebuch als quasi backstage-Pass offen liegen lassen – um Nähe zu zeigen, oder eben um der anderen Person die Chance zu geben, das letzte bisschen Rolle als Teil der individuellen Freiheit zu akzeptieren?

Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung.
Ich erwische mich manchmal dabei, wie ich mich frage, wie ich wirke oder dabei, dass ich meine Wohnung aufräume, wenn ich Besuch bekomme. Habe ich einen One-Night-Stand bevorzuge ich es, den bei ihr und nicht bei mir zu haben, und ich lege großen Wert darauf, das mein Privatleben privat bleibt – trotz Blog.

Goffman übrigens würde sich gegen die Rollenlosigkeit der Beziehung verwehren. Aber der hat sich später auch vornehmlich mit dem Rollenverhalten in Gefängnissen und Psychatrien beschäftigt. Aber das nur am Rande.

In diesem Sinne, frohes Aufräumen!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

2 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Dein Artikel spricht einen interessanten Aspekt menschlichen Verhaltens an. Goffmann’s Theorie suggeriert, dass es einen Schauspieler gibt, der unsere “wirkliche” Identitaet darstellt, die unabhaengig von der Fassade existiert, und “auf der Buehne” in verschiedene Rollen schluepft.

    Aber gibt es diese “wirkliche” Identitaet hinter der Buehne ueberhaupt? Sind wir denn nicht schon masslos ueberfordert, wenn wir unsere eigene Persoenlichkeit z.B. in der Rubrik “Ueber mich” in StudiVZ beschreiben sollen, auch wenn wir nicht gerade jemand damit beeindrucken wollen?

    Unsere Persoenlichkeit ist zusammengesetzt aus vielen Facetten, und wir sind staendig bemueht, daraus unsere “Identitaet” formen. Wir wechseln von Situation zu Situation zwischen emotional, rational, extroviert, introvertiert. Jedoch hat jeder Mensch einige Facetten, die ihm besonders gut liegen, und manche, die er nur mit Widerwillen nach aussen dringen laesst. Manchmal kommt es auch einfach auf die Tagesform an. Dementsprechend liegen uns, um wieder auf Goffman zurueckzukommen, bestimmte Rollen besser oder schlechter.

    Ich glaube auch in einer Beziehung spielen wir eine Rolle, und in deinem Beispiel einmal den “Hey Kleine, ich bin so wie ich bin, und ich denke du akzeptierst wenn bei mir die Unterhosen rumliegen.” und ein andermal den “Hey Kleine, ich bin ein ordentlicher Mensch, sieh wie es bei mir immer aufgeraeumt ist”. Beides kann an verschiedenen Tagen in einer Beziehung aber sicher problemlos nebeneinander vorkommen.

    Ich denke das Problem liegt daher woanders, nicht inwieweit man seine “wahre” Identitaet zeigen sollte, sondern wie gut zwei Partner in einer Beziehung ihre Rollen aneinander anpassen oder gegenseitig tolerieren koennen.

  2. Ich glaube, dass ich niemanden so ganz an mich heranlasse und zumindest in Teilen immer eine Rolle spiele, selbst bei den mir am nächsten stehenden Menschen. Das aber nicht unbedingt, um meine Fassade aufrechtzuerhalten.
    Manches aus Respekt dem anderen gegenüber: wenn ich meine schmutzigen Socken aufräume oder das Bad putze, bevor Besuch kommt, dann, weil ich möchte, dass er sich bei mir wohlfühlt.
    Vieles zeige ich auch nicht, um mein Gegenüber zu schützen. Ich will den anderen nicht belasten. Lieber ziehe ich mich zurück oder versuche es zu verstecken.
    Zwei weitere Gründe, warum man eine Rolle spielt, nicht wahr?

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