Frauen Mitmenschen Tresenweisheiten Webwelten

Offen gefühlt

Wenn jemand betonen möchte, dass er nun etwas besonders Bedeutungsschweres sagen möchte, dann beginnt er den Satz mit den Worten “offen gesagt”. Das war zumindest früher so. Heute wird schon lange nichts mehr “offen gesagt” – heute wird offen gefühlt!

Es ist nicht so, dass ich mich im Web besonders zurückhaltend bewege – siehe dieses Blog. Ich dürfte mich also eigentlich gar nicht beschweren oder wundern. Trotzdem kann ich vielleicht genau deshalb manchmal gar nicht anders, als den Kopf zu schütteln.

“Stehe jetzt vor der schwersten Entscheidung meines bisherigen Lebens”, teilte vor einigen Monaten eine flüchtige Bekannte via Facebook der Online-Welt mit – freilich ohne Details zu verraten. (Heute weiß ich, es ging darum, ob sie ihren Job aufgeben soll, um ihrem Freund in eine andere Stadt zu folgen). “Bin schwer enttäuscht, gehe jetzt ins Bett”, schrieb eine andere Bekannte ziemlich spät an einem Freitagabend. Wovon überließ sie der Phantasie des geneigten Lesers. “Verwirrtes Herz – er oder doch er” kryptisierte Bekannte Nummer drei kürzlich.

Facebook, Twitter, Blog und Co – es ist heutzutage leicht, sich vielen Menschen auf einmal mitzuteilen. Notfalls kann man auch immer noch in eine Talkshow im Vormittagsprogramm von RTL2 gehen. Aber muss das wirklich immer sein?

Es wäre vielleicht zu leicht, den oben genannten Personen zu unterstellen, sie wollten sich nur wichtig machen – ganz falsch wäre es nicht. Aussagen wie die (verfremdet) hier zitierten lassen vieles ahnen, ohne der Phantasie ihren Spielraum zu nehmen. Sie machen gewollt neugierig. Trotzdem wäre es reichlich unpassend, eine einigermaßen fremde Frau zu fragen, warum sie “schwer enttäuscht” ist oder wer “er” und wer der andere “er” ist. Die entsprechende Frau scheint aber in jedem Fall ein interessantes Liebesleben zu haben. Aber muss sie das wirklich in die Welt hinaus schreien?

Ich habe das Gefühl, manche Menschen teilen sich heutzutage lieber halb einer anonymen Masse mit statt einmal ganz mit einem guten Freund zu sprechen. Andererseits: Bin ich vielleicht einer von ihnen?

In diesem Sinne, sie? Oder sie?

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

1 Kommentar Neues Kommentar hinzufügen

  1. Mann/Frau posted etwas in die virtuelle Welt, um eine Reaktion, Trost oder eine Umärmelung zu erhalten. Und weil man nicht ständig einen einzelnen Menschen auf den Keks gehen möchte, posted man es in die große Welt und wer Lust hat kann etwas zurück geben. My five Cent.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert