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Jetzt bloß (nicht?) tot umfallen!

Lange habe ich gedacht: wenn ich jetzt tot umfalle, wäre das zwar schade, aber zumindest in so fern nicht schlimm, dass ich mir nicht vorzuwerfen hätte, etwas verpasst zu haben. Ich war der Meinung, alles erreicht zu haben, was ich bis dahin hatte erreichen wollen.

Zugegeben: als ich diesen Gedanken gehabt habe, war ich noch ziemlich jung. Ich hatte gerade mein erstes Studium erfolgreich abgeschlossen. Mit dem Rucksack auf dem Rücken war ich einmal um die Welt gereist, war Fallschirmspringen gewesen und hatte am Great Barrier Reef (oben im Bild, vom Boot aus fotografiert) rudimentär tauchen gelernt. Außerdem hatte ich mein Herz an eine Argentinierin verloren, die meine Gefühle sogar eine Zeit lang erwidert hatte. Kurz: ich hatte alles richtig gemacht, fand ich. Was mehr hätte ich auch von meinem Leben erwarten dürfen? Wie gesagt, wäre ich in diesem Moment tot umgefallen, es wäre irgendwie OK gewesen.

Dabei war dieses Gefühl keinewswegs neu. Wenn ich zurückblicke, gab es immer wieder Augenblicke, an denen ich dachte: jetzt habe ich es geschafft. Mehr geht, zumindest für den Moment, einfach nicht.

Schon als Schüler hatte ich zum Beispiel davon geträumt, als Journalist zu arbeiten und irgendwann große Reportagen schreiben zu dürfen. Also machte ich ein Schülerpraktikum in der lokalen Zeitungsredaktion, wo ich meine ersten Kleinst-Meldungen veröffentlichen durfte. Zwischen Abi-Klausuren und Abschlussball ging ich zum Fernsehen und lief einen Monat als Praktikant bei RTL-Aktuell mit. Nach zwei Wochen durfte ich das erste Mal alleine mit einem Kamerateam zu einem Außendreh fahren. Es ging darum, das Kleinkind einer Redakteurin dabei filmen zu lassen, wie es eigenständig sein Töpfchen ins Wohnzimmer trug und sich dann darauf setzte. Wir drehten die Szene bestimmt fünf Mal, dann hatte der Kleine keine Lust mehr. Aber der zuständige Redakteur war mit den Bildern, die ich ablieferte zufrieden, das zählte. Worum es bei dem Beitrag letztlich ging, weiß ich übrigens nicht mehr.

Später bei der Bundeswehr bewarb ich mich bei der Zeitschrift “Luftwaffe”, eine monatlich erscheinende Zeitschrift, die innerhalb der Bundeswehr verteilt wurde, und unter anderem von Wehrpflichtigen wie mir produziert wurde. Endlich war es so weit: ich durfte nicht nur Artikel schreiben und fotografieren, die auf mehreren, auf Hochglanzpapier gedruckten Seiten veröffentlicht wurden, sondern man schickte mich sogar in ein damaliges Krisengebiet, den Kosovo, aus dem ich zwei Wochen lang berichten durfte.

Ein Kollegen und ich damals vor dem Pressezentrum in Prizren im Kosovo.

Und da war er wieder, der Moment. Ich wurde nicht nur gedruckt, ich durfte mich sogar wie ein echter Kriegsreporter fühlen. Konnte ich wirklich mehr vom Leben erwarten?

Nun sollte man meinen, dass diese Augenblicke mit zunehmendem Alter seltener werden, und das stimmt auch. Schon weil mir irgendwann klar wurde, dass vieles, was ich für das Ende der Fahnenstange hielt, lange nicht das Ende war. Lese ich heute meine Texte von damals, muss ich schmunzeln. Habe ich seinerzeit wirklich gedacht, das wäre mein Durchbruch als großer Reporter gewesen? Heute weiß ich es zum Glück besser.

Hinzu kommt, dass mein Horizont mit jedem Jahr, das ich seitdem älter geworden bin, ein bisschen weiter geworden ist. Die Ziele, die ich mir heute stecke, privat wie beruflich, sind viel langfristiger und vielleicht auch nicht ganz so einfach zu erreichen wie meine Ziele damals.

Trotzdem empfinde ich es bis heute als beruhigend, dass sich meine Erwartung an das Leben offenbar genau in der Geschwindigkeit verändert, wie sich das Leben selbst verändert. Als Teenager konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich einmal keinen Spaß mehr daran haben könnte, jedes Wochenende feiern zu gehen. Mysteriöserweise nahm mein Bedürfnis nach durchtanzten Nächten genau in der gleichen Geschwindigkeit ab wie meine Regenerationsfähigkeit nach denselben schlechter wurde. Praktisch, oder? Vor allem irgendwie beruhigend für die Zukunft.

Ich habe keine Ahnung, wie es einmal sein wird, wenn ich für den jeden längeren Spaziergang mit meiner Frau einen Rollator brauche und nur noch davon träumen kann, im Flugzeug irgendwohin zu reisen. Aktuell finde ich diese Vorstellung ziemlich unheimlich. Allerdings baue ich darauf, dass ich, wenn es soweit ist, eigentlich ganz zufrieden damit sein werde. Bisher hat das ja auch ganz gut geklappt.

In diesem Sinne, Gruß an mein 19-jähriges Ich – und an mein 90-jähriges Ich natürlich auch!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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