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Happy Hour

Wer im Erdgeschoss wohnt sitzt auf dem Präsentierteller. Entsprechend haben die meisten Mieter solcher bürgersteignahen Wohnungen blickdichte Gardinen, Rollläden oder einen sonstigen Sichtschutz installiert. Privatsphäre geht dann eben vor Tageslicht.

Doch nicht alle sehen das so. Lange gab es in meiner Nachbarschaft eine Erdgeschoss-WG, denen es offenbar nichts ausmachte, ein Leben auf dem Präsentierteller zu führen. Gerade abends, wenn es draußen dunkel und drinnen das Licht an war, war man als vorbei laufender Passant nahezu genötigt, zumindest einen kurzen Blick in die kleine, zum Bürgersteig gelegene WG-Küche zu werfen.

Was man dort sah, war normalerweise eher unspektakulär: schmutzige Geschirrstapel in der Spüle, gebannt auf einen Laptop starrende WG-Bewohner am Küchentisch oder, selten, jemanden, der etwas kochte (Nudeln, meistens jedenfalls). Interessanter war dagegen der offenbar kollektiv gestaltete Fensterschmuck: “Weihnachten – wir sind dafür” stand dort etwa in der Adventszeit zu lesen oder “54, 74, 90, 2006 – Deutschland wird Weltmeister” als im vorletzten Sommer das WM-Fieber wütete.

Besonders beliebt bei den drei WG-Bewohnern schien folgender Spruch: “Heute keine Cocktails” hieß es dauerhaft wie unscheinbar auf einen weißen Zettel getippt, der unten links an der Scheibe klebte. Entgegen der übrigen Zettel verschwand dieser Zettel nie oder besser: fast nie. Im letzten Sommer, als das Thermometer dann doch einmal an der 30 Grad Marke kratzte, stand eines Tages plötzlich statt “heute keine Cocktails” ein fröhliches “Morgen Cocktails!” im Fenster des WG-Haushalts.

Und tatsächlich, als ich am nächsten Abend auf dem Weg zur Arbeit an der Erdgeschosswohnung vorbei kam, saßen die drei Bewohner auf Liegestühlen auf dem Bürgersteig vor ihrem Fenster und schlürften Cocktails. Vielleicht eine Art Abschiedsevent, denn kurz darauf sind die drei ausgezogen – zusammen mit dem Cocktail-Schild. Heute hängen Gardinen und hässlicher Holzschmuck in den Küchenfenster. Schade eigentlich.

In diesem Sinne, erstmal keine Cocktails mehr!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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