Gedankenwelten

Die Tresengestalt

Er sah nicht mal fremd aus, nur irgendwie deplatziert. Während sich alle anderen blendend unterhielten, schien er wie aus einer anderen Welt. Still und doch aufmerksam, unauffällig und doch alles beobachtend stand er da: der Mann mit der Brille.

Wir hatten uns in der Bar eines größeren Berliner Hostels getroffen, in dem L. einmal gearbeitet hatte. Ein langer und nur zur Hälfte besetzter Tresen, einige Sitzecken und ein Haufen betrunkener Backpacker, die größtenteils in den Sitzecken saßen und nur hin und wieder zum Tresen wankten, um Bier oder Cocktails zu bestellen.

Auf einem Fernseher über der Bar lief BBC, doch die verwackelten Bilder von kenianischen Militärs, die durch die Straßen Nairobis hetzten, schienen niemanden zu interessieren. Die Gesprächsfetzen deuteten vielmehr auf den typischen Hostel-Smalltalk hin: Wo kommst Du her, wo gehst Du hin und vor allem: wo bist Du schon überall gewesen.

Alle amüsierten sich großartig. Nach und nach schien jeder mit jedem bekannt, und es bildeten sich die ersten Grüppchen, die in Richtung Oranienburger Straße loszogen, um dort weiter zu trinken. Der Tresen und auch die restliche Bar leerte sich zusehends. Einzig der Mann mit der Brille blieb zurück.

Irgendwie tat er mir leid, weil er so zurückgelassen und irgendwie unglücklich aussah. Wie eine dieser Tresengestalten, die man in Backpackerkneipen auf der ganzen Welt trifft. Jemand, der den richtigen Moment verpasst hat und nun verzweifelt darauf hofft, doch noch dazu gebeten zu werden, während er zugleich krampfhaft versucht, sich eben das nicht anmerken zu lassen.

Ich habe keine Ahnung, woher der Mann mit der Brille kam. Er sah noch recht jung aus, vielleicht 21 oder 22 Jahre alt. Seine Kleidung, Flanellhemd und Multifunktionshose, wirkten neu, als hätte er sie gerade erst gekauft. Auch seine Trekkingschuhe waren offensichtlich noch nicht mit unasphaltierten Wegen in Kontakt gekommen. Einen kurzen Moment habe ich überlegt, ihn anzusprechen, habe es dann aber gelassen, weil ich es nur aus Mitleid und nicht aus echtem Interesse getan hätte.

Als L. und ich um halb eins gingen war er der letzte, der noch am Tresen saß. Ein wenig hat der Mann mit der Brille mich an mich selbst erinnert, als ich vor Jahren das erste Mal allein in einem Hostel übernachtet habe. Ein komischer Gedanke.

In diesem Sinne, öfter Mal in den Spiegel gucken!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert