Eitelkeiten Frauen Mitmenschen

Spiegelschrift

Der Termin war schuld. Seinetwegen bin ich letzte Woche früher zur Arbeit gefahren als sonst. Seinetwegen bin ich eine halbe Stunde früher aus meiner kleinen Straße auf die etwas größere Straße abgebogen. Wie immer war die Ampel, die ein paar hundert Meter weiter den Verkehrsfluss zu der noch größeren Straße regelt, rot. Wie immer habe ich angehalten.

Vor mir an der Ampel stand ein blauer Peugeot. Dessen Kennzeichen war vermutlich aus den Initialen und dem Geburtsjahr der Fahrerin zusammengesetzt. Das vermute ich jedenfalls. Dabei wäre mir das wohlmöglich gar nicht aufgefallen, hätte ich nicht zufällig und noch etwas müde durch meine Windschutz- und durch die fremde Heckscheibe in den ebenfalls fremden Innenspiegel geguckt. Darin reflektiert konnte ich zunächst ein paar Augen, dann eine Nase und später noch einen Mund erkennen. In dieser Reihenfolge.

Ein Gesicht, dass sich direkt als Ganzes präsentiert, kann durchaus interessant sein. Eines, dass man von vornherein nur Stück für Stück offenbart bekommt, ist in jedem Fall interessant. Zum ersten Mal hat mich jedenfalls gestört, dass die Ampel, die den Verkehrsfluss zu der noch größeren Straße regelt, immer recht schnell auf grün schaltet. 

Ein paar hundert Meter rollte ich noch hinter der Frau her, die zwar ihr Gesicht nur nach und nach offenbart, ihr Geburtsjahr dafür aber auf dem Autokennzeichen spazieren fährt. Dann bog sie links in Richtung Ulm ab. Ich dagegen fuhr weiter geradeaus in Richtung Innenstadt.

Einerseits fand ich das nicht wirklich schlimm. Die Frau im Wagen vor mir war, zumindest wenn das Kennzeichen die Wahrheit sprach, etwas jung. Auch rauchte sie, was mich zwar grundsätzlich nicht stört, was aber, durch eine Windschutz- und eine Heckscheibe im Innenspiegel betrachtet, irgendwie fies aussieht.

Positiv überrascht war ich trotzdem, als ich zwei Tage später wegen des selben Termins (bzw. der Fortsetzung des selben) wieder früher zur Arbeit fuhr: die selbe Ampel, das selber Kennzeichen, das selbe Gesicht im Innenspiegel.

Ich habe keine Ahnung, ob sie mich erkannt hat. So ganz wegschieben konnte ich den Gedanken aber nicht: vielleicht sollte ich nächstes Mal einfach eine Minute eher losfahren. Dann würde ich an erster Stelle an der Ampel stehen, die den Verkehrsfluss zu der größeren Straße regelt. Alleine schon, um selber einmal das Gesicht im Innenspiegel zu sein. Scheint ja attraktivitätssteigernd zu wirken.

In diesem Sinne, gute Fahrt!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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