Lebenshilfe Zeitreisen

Fluchtpunkt

2009-01-11-jever1Gerade weil sie vorbei ist, ist sie gefährlich. An manchen Tagen ist es leicht, sich in ihr zu verlieren. Gut ist das nicht. Sich zu sehr auf die Vergangenheit zu konzentrieren bedeutet, das Hier und Jetzt zu vernachlässigen. 

Trotzdem gibt es diese Tage, an denen ich einfach nicht anders kann. Eine Erinnerung jagt die nächste. In süßer Melancholie gefangen spaziere ich in Gedanken die alten Wege ab, verliere mich in Reiseerinnerungen und Momentaufnahmen früherer Leben.

Immer neue Bilder tauchen vor meinen Augen auf. Gerüche, Gedanken, sogar Geschmäcke. Etwa das herbe Jever-Aroma, das ich immer noch auf der Zunge spüre, wenn ich an die ersten Besuche in Wuppertal denke, als ich noch in Berlin gewohnt habe. Es war das Bier, das mein Vater kalt gestellt hatte, wenn ich am Abend in Wuppertal aus dem ICE gestiegen bin. 

Die Biersorte hat mittlerweile gewechselt, doch der Vorteil der Reise ins Damals liegt auf der Hand: Die Vergangenheit ist wie ein gelesener Roman, man kennt ihr (vorläufiges) Ende. Bei den Dingen, die mir heute Sorgen machen, weiß ich noch nicht, wie sie sich entwickeln. Das “Früher” ist da deutlich unkomplizierter. Ein toller Fluchtpunkt für die Gedanken eben. 

Hinzu kommt, dass die zeitliche Distanz relativierend wirkt. Rückblickend, im Gesamtkontext betrachtet, wirkt heute vieles leichter, was früher tonnenschwer auf meinen Schultern zu lasten schien. Wie erfrischend unbedeutend sind heute die Sorgen von damals, denn fast alle davon haben sich – so oder so – erledigt.

Keine neue Erkenntnis, eigentlich. Komisch wird das Ganze trotzdem. Nämlich immer dann, wenn man sich bewusst macht, dass auch das Jetzt irgendwann zu einem Früher und damit ebenfalls zu einem potenziellen Ziel für eine Flucht aus der Realität wird.

In diesem Sinne, gute Reise auch!

Journalist und Geschäftsführer eines Nachrichtenportals, Indiana Jones, Papa von zwei Töchtern, schreibt hier privat. Mag Hotelbetten, Ernest Hemingway, Berlin, Erich Kästner, Wuppertal, Schreiben mit Füller, schöne Kneipen, dicke Bücher, Fotografieren, scharfes Essen und kaltes Bier.

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