Henry war nackt. Nur mit einem Schnuller im Mund saß er in seinem Bollerwagen und gab Anweisungen. Die rechte Hand nach vorne hieß: schneller! Die Hand nach oben: anhalten. Meist hielt Henry die Hand nach vorne. Nur hin und wieder nahm er mit der nach vorne gerichteten Hand kleinere Richtungskorrekturen vor, während sein fünf oder sechs Jahre älterer Bruder ihn im wilden Galopp an den Wohnwägen und Wohnmobilen vorbei zog.
Es ist lange her, dass ich zuletzt auf einem Campingplatz übernachtet habe. Deshalb fühlt es sich im ersten Moment komisch an, nun wieder auf einem Klappstuhl vor einem Wohnwagen zu sitzen. Wie auf dem Präsentierteller. Dürftigen Sichtschutz bietet nur eine kleine Hecke, die etwa ein Drittel des Platzes abschirmt. Es ist klar: Campen, das heißt auch: sehen und gesehen werden. Jeder, der vorbeikommt, grüßt nicht nur freundlich, sondern schaut auch so lange intensiv zu mir rüber, bis ich artig zurückgegrüßt habe. Man kennt sich. Und wen man nicht kennt, den möchte man kennenlernen.
Die meisten anderen Gäste auf dem kleinen Campingplatz in der Nähe von Hattingen sind sogenannte Dauercamper. Sie haben ihre Wohnwagen längerfrisitig hier geparkt und kommen mindestens jedes Wochenende her. Einige scheinen im Sommer sogar ganz hier zu wohnen, so aufwendig haben sie sich in ihren Parzellen eingerichtet. Es gibt mit viel Liebe zum Detail eingezäunte Mini-Gärten mit Kieswegen und Blumenbeeten. Einige der Dauergäste haben die Nummernschilder ihrer Wohnwägen durch ein Schild mit der Nummer ihres Stellplatzes ersetzt, wie um zu demonstrieren, dass der Wohnwagen hier seine finale Parkposition erreicht hat. Über mehr als einem der nicht mehr mobilen Mobilheime flattert entweder eine Schalke- oder eine Dortmund-Flagge.
Außer Henry und seinem Bruder gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Kinder in beinahe jedem Alter auf dem Campingplatz. Sie sind die Ersten, die man sieht, wenn man die Schranke am Eingang passiert hat und mit dem Auto – in Schrittgeschwindigkeit! – den schmalen Weg am Waschhaus vorbei zum Wohnwagen rumpelt. Zum Be- und Entladen ist das erlaubt, ansonsten hat das Auto draußen zu stehen-Die Wege gehören den Kindern auf ihren Fahrrädern. Und natürlich Henry in seinem Bollerwagen.
Ich glaube, das war einer der Hauptgründe, warum mir, als ich ein Kind war, die Sommerurlaube auf dem Campingplatz so gefallen haben. Und es dürfte auch einer der Hauptgründe gewesen sein, warum sie meinen Eltern gefallen haben. Auf einem Campingplatz braucht man auf Kinder nicht aufzupassen. Sie können tun und lassen, was sie wollen, weil ihnen hier sowieso nicht viel passieren kann.
Darüber denke ich nach, während ich auf meinem Klappstuhl vor dem Wohnwagen sitze und darauf achte, bloß keinen grüßenden Nachbarn zu übersehen. Ich bin das erste Mal auf diesem Campingplatz und werde nur für eine Nacht hier sein (und die nur zu Besuch). Trotzdem fühle ich mich zuhause. Alte Gefühle, insbesondere solche, die man sich in der Kindheit und über Jahre weg angeeignet hat, schüttelt man nicht einfach ab, nur weil man sie eine Weile nicht gespürt hat.
Von Geburt an und bis in meine mittleren Teenager-Jahre haben meine Eltern, meine Schwester und ich jeden Sommerurlaub auf einem Campingplatz verbracht. Tatsächlich konnte ich mir lange nicht vorstellen, wie man überhaupt anders Urlaub machen konnte. Die Pauschalreisen, von denen viele meiner Freunde nach den Sommerferien berichteten, kamen mir reichlich suspekt vor. Zwei Wochen lang in irgendwelchen Hotelzimmern zu schlafen, das schien mir, verglichen mit vier Wochen im Zelt vor dem elterlichen Wohnwagen, die schlechtere Alternative.
Das blieb auch so, als ich älter wurde. Auf dem Campingplatz gab es immer genügend andere Jugendliche, mit denen ich abends unterwegs sein, am See sitzen oder Lagerfeuer am Strand machen konnte. Und weil hier, wie schon gesagt, nicht viel passieren konnte, galten meist deutlich großzügigere Zapfenstreich-Zeiten als zuhause.
Auf Campingplätzen ist alles näher und offener. Der Abwasch nach dem Essen wird in einer große Schüssel zu den Sanitäranlagen getragen und dann dort erledigt. Morgens geduscht und die Zähne geputzt wird ebenfalls im “Waschhaus”. Wenn man nur lange genug vor dem Wohnwagen saß, konnte man daher eigentlich sicher sein, dass früher oder später die gesamte nähere Umgebung an einem vorbeigelaufen kam. Und wen man nicht auf dem Weg zum Duschen und Zähneputzen oder zum Abwaschen vorbeilaufen sah, den sah man spätestens beim Weg zur Toilette.
Standesunterschiede gibt es, zumindest auf den ersten Blick, keine. Man könnte auch sagen: morgens auf dem Weg zum Waschhaus sind alle gleich strubbelig auf dem Kopf. Das ist es, was das Ganze so entspannend macht, denke ich, während ich auf meinem Klappstuhl sitze und Henry erneut mit dem Bollerwagen an mir vorbeidonnert.
In diesem Sinne, schade, dass es nur eine Nacht war.